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Es ist Herbst im Tessin

Im Garten von La Fontanella blühen die Herbstblumen. Die Seerosen auf dem Brünnlein sind verwelkt. Tante Hanna und ich gehen nicht mehr morgens an den See zum Schwimmen, abends bei unserem Spaziergang rund um den Origliosee tragen wir warme Jacken. Wir sind alleine auf unserer Seite des Sees. Die anderen Häuser sind winterfest verschlossen. Nun regnet es oft und anders als im Sommer wärmt die Sonne nicht nach kurzen Schauern das Gras, die Erde und die Seele. 

Die kargen Felswände sind näher gerückt. Nebelschwaden umspielen die Gipfel, als hätte jemand die Vorhänge vor dem Himmel geschlossen. 

 

 

Es ist Jagdzeit im Tessin! 

Am Sammelplatz begrüßen sich die ankommenden Jäger wie alte Freunde. Es riecht nach Kaffee, Zigarillos und Männern. Als meine Tante mit mir und Bessie ankommt, löst sich sofort ein Mann aus der Gruppe und kommt lächelnd auf uns zu.

„Signora, bellisima!“ Begrüßt er meine Tante mit angedeutetem Handkuss und fährt mir mit seinem Zeigefinger über die Wange.

Es gibt zwei Gruppen Männer. Die einen sind faszinierend schmutzig und, da bin ich mir sicher, ungewaschen und ungekämmt, während die anderen ordentlich gekleidet sind und nach Rasierwasser riechen.

 

Die gut riechenden Männer versammeln sich um meine Tante und bald bin ich in Vergessenheit geraten. Bessie und ich setzen uns auf einen Stein. Eine Signora aus dem Ort setzt sich zu mir und bietet mir ein belegtes Brötchen an. „Iss, Kind! Das wird ein anstrengender Tag!“ Fordert sie mich auf. „Wie schön Du aussiehst.“, stellt sie fest während sie mich betrachtet.

 

Wie die gut reichenden Männer tragen meine Tante und ich Stiefel mit Stiefelsocken, eine Bluse unter dem Pullover und leider eine Jacke aus sehr kratzigem Stoff. Wie auf ein stilles Zeichen verabredet stellen sich die Männer auf und die Hörner lassen ihre Lieder zum Beginn der Jagd ertönen. Bessie weiß, nun geht es los, stimmt mit leidenschaftlichem Geheul in die Melodie ein.

Die Jagdhornbläser stemmen ihre Hörner in die Hüften und der schöne Mann beginnt auf Italienisch und Schwitzerdütsch zu sprechen. Alle hören zu, der Kaffee oder Tee mit Schuß dampft aus den Bechern. Die Signora mit den Brötchen bekreuzigt sich mehrmals und reckt immer wieder ihre betenden Hände zum Himmel. Zum Schluss schwenken alle Männer ihre Hüte, rufen in aufgeregter Erwartung etwas Unverständliches. Alle verteilen sich auf die bereitstehenden Autos oder verschwinden direkt mit ihren Gewehren im Wald. Der Platz ist völlig leer und ruhig als der schöne Mann, der sich mir nun als Sergio vorstellt, mit Tante Hanna, Bessie und mir in seinem Auto in den Wald fährt. 

 

Die Jagd beginnt!

Es knallt und donnert im ganzen Wald. Sergio und Tante Hanna sitzen auf einem Stand, eng aneinander gekuschelt. Ich bin eine Etage tiefer. Ich sitze auf einem Sitzstock, der schief stehen muss, damit meine Füße den Boden erreichen. Immer wenn sich ein Stück Wild vorsichtig aus dem Wald traut oder an uns vorbei rennt richtet Sergio seine Büchse und ich halte mir die Ohren zu. In der Ferne höre ich Bessies Laut, der uns verkündet, dass das Wild auf den Läufen ist.

Stunden später, meine Beine zittern und mein Po ist taub vom Sitzen, ertönt in der Ferne das Signal „Hahn in Ruh!“ 

Sergio und Tante Hanna klettern von ihrem Hochsitz. Tante Hannas Haar ist verstrubbelt und Sergio hat Lippenstift im Gesicht. Über die Lichtung läuft Bessie zu mir. Dieser kleine, wilde, kluge Hund! Mein Herz ist voller Liebe.

 

Sergio und ich begleiten Tante Hanna zum Auto. Dort soll sie auf uns warten. Bessie bekommt ein dickes Halsband mit einer langen Leine an. Sie führt mich zielsicher durch den Wald. Sergio folgt uns mit seinem Gewehr. Es kommt nicht zum Einsatz, alles Wild das wir finden ist sauber erlegt. Bessie lässt sich nur von mir von ihren Fundstücken entfernen. Einmal beißt sie Sergio in die Hand. Da hat der große Mann den kleinen Dackel unterschätzt.

Gemeinsam bringen wir unsere Beute an den Sammelplatz. Alle Jäger kommen und gratulieren mir zu meinem „guten Hund“. Ich verstehe nicht alle aber ihre Begeisterung ergreift mich und ich bin so stolz.

Die Strecke wird gelegt, die Jagdhornbläser blasen nun das Lied der erfolgreichen Jagd. Alle Jäger und Hunde sind unversehrt wieder zurückgekommen. Das ist nicht immer so im Tessin, wo das Blut der Jagd etwas hitziger ist als anderswo. 

Das Lagerfeuer wärmt und ich bekomme von der Signora einen großen Becher Kinderkaffee und etwas zum Essen.

Vor dem Schüsseltrieb bringt meine Tante mich zu La Fontanella. Es ist dunkel geworden. Ich hülle mich in eine warme Decke und bereite Bessie ihr Futter. „Heute bekommst du eine extra Portion.“ Sie wedelt dankbar über die überfüllte Futterschüssel.

Ich beobachte sie beim Fressen, setze mich neben sie und erzähle ihr dies und das.

 

Es ist Herbst im Tessin. Ich frage mich kurz, ob meine Eltern mich jemals wieder nach Hause holen, dann werde ich ihnen alles genau erzählen. Bessie und ich schlafen ein, gemeinsam zusammengerollt im Hundekörbchen.

 

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